Sybille Mai ist eine außergewöhnliche Athletin. Mit hervorragenden Platzierungen und der schier unglaublichen Menge an ultralangen Trailläufen im Gebirge, hat sie sich in den vergangenen zwei Jahren einen Namen in der gesamten Ultra-Szene gemacht.

Eine Trainingswoche mit weniger als 100km ist eher die Ausnahme als die Regel. Die etlichen Trainingsstunden, die dafür notwendig sind werden vor oder nach ihrem Vollzeitjob untergebracht. Mit ihrer Trainerin verbindet sie ein ganz besonderes Verhältnis.

Am vergangenen Wochenende startete diese Athletin beim Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB). Einem Rennen, das sich in der Ultraszene am besten mit der Triathlon-Weltmeisterschaft auf Hawaii gleichsetzen lässt. Auch wenn es etwas andere Qualifikationskriterien gibt. 172 km und unglaubliche 10.300 Höhenmeter führen die Teilnehmer hierbei (am Stück!) rund um das gesamte Massiv des höchsten Berges Europas. Neun Gipfel warten darauf, erklommen zu werden. Alles ist weltklasse organisiert. Start und Ziel befinden sich in Chamonix, das in der Woche des World Ultra Trail Summits aus allen Nähten platzt.

Die knapp 21 Stunden, die der schnellste Mann Xavier Thevenard aus Frankreich brauchte, oder die 36 Stunden und 46 Minuten, die Sybille am Ende benötigte – beides für sich Leistungen, die eine Energieleistung, Stärke, viel Training und noch viel mehr Erfahrung erfordern. Vor dem Start wird diese Energie durch die Gänsehautatmosphäre im Stadtkern und die vielen Tausend Fans am Streckenrand auf die Läufer übertragen. Danach sind sie auf sich allein gestellt. Mit Laufrucksack bepackt, welcher eine umfangreiche Pflichtausrüstung beinhaltet, 4 kg wiegt und den Athleten trotz Tragekomforts durch die schiere Länge des Tragens oft ein Minenfeld im Schulterbereich hinterlässt, geht es auf die Reise durch die Natur. Nur an verschiedenen Checkpoints warten Betreuer und Verpflegungsstationen. Aber auch „ein paar Verrückte“, wie sie Sybille liebevoll nennt, harren immer wieder lange am Wegrand der 172 km langen Strecke aus, nur um die Athleten anzufeuern.

Ultraläufer sind naturverbundene Menschen. Sie respektieren die Regeln der Berge, die Lebensräume der Tiere und die Vegetation. Diese zu erhalten ist ihnen wichtig. Die Natur gibt den Athleten im Verlauf immer wieder Energie, beispielsweise wenn sie in der sternenklaren Nacht, ohne jegliche Lichtverschmutzung einen Blick auf die Milchstraße ergattern können. Diese Natur ist gleichzeitig auch einer der größten Widersacher auf dem Weg ins Ziel. Wenn eben diese sternenklare Nacht durch ihre Kälte an den Reserven der Läufer knabbert, wenn der Regen die Kleidung und die Haut aufweicht, den Boden schmierig und rutschig macht und so jeden Bergablauf zum Konzentrations- und Balanceakt werden lässt.

In 36 Stunden hat man viel Zeit nachzudenken. Sybille berichtet mir und vielen anderen nach dem Rennen ausführlich über ihre Gefühlslage vor, während und nach dem Lauf. Was ging in den neun Stunden in ihr vor, in denen sie von Zweifel geplagt, von Erschöpfung getrieben und vom Wetter gepeinigt wurde? Warum war von jetzt auf gleich alles Leid verflogen und die Zuversicht wieder da?

„Vor dem Lauf wurde eine Whatsapp Gruppe eröffnet, in die viele Läuferkollegen, Teile meiner Familie und Freunde eingeladen wurden. Die Idee war, die Leute, denen ich am Herzen liege und die interessiert waren, an meinem sportlichen Lebenshöhepunkt teilhaben zu lassen. Dennis, mein Lebensgefährte und Betreuer vor Ort, sollte die Gruppe quasi als Liveticker während des Laufes über alles informieren.“ Als Informationsgruppe gedacht wird diese Gruppe ab Startschuss zweckentfremdet und die knapp 50 Teilnehmer bombardieren Sybille mit über 1.000 Motivations-, Anfeuerungs- und Mitgefühlsnachrichten. „Zwar konnte ich die Nachrichten während des Laufes nicht lesen, doch hörte ich es fast kontinuierlich im Rucksack summen. Das gab mir neben den regelmäßigen Treffen mit Dennis bei den Checkpoints sehr viel Halt“. Neben einem Handy gehören noch weitere Ausrüstungsgegenstände zur Pflichtausrüstung bei diesem Lauf. Sicherheit wird bei Ultras groß geschrieben, denn im Hochgebirge kann viel passieren und das Risiko, sich zu verletzen ist enorm – das Risiko zu minimieren das Ziel.

Vor dem Start ist für Sybille alles großartig. Sie ist sich ihrer Stärken voll und ganz bewusst. Ultraläufe in den Bergen um die 100 km liegen ihr. Sie weiß, wie sie mit ihren Kräften haushalten muss. Ihr Kopf ist bei Ultras ohnehin IMMER voll da und vor allem klar. So kann Sie auch bei Schmerzen weitermachen, was bei diesen Distanzen mitunter eine der wichtigsten Eigenschaften ist.

„Dass vier Stunden vor dem Start auf einmal meine Trainerin samt Familie vor dem Icebreaker-Shop steht, indem ich noch einen letzten Panikkauf tätigen musste, war eine unglaublich tolle Geste, die mir einen richtigen Schub gegeben hat.“ Gefühlschaos, Freude, Tränen, Freudentränen. Oder wie es die Athletin ausdrückt: „gerührtes Flennen vorm Rennen.“ Soviel Anspannung vor dem Start. Und doch wirkt sie ganz entspannt.

Es ist Freitagabend kurz vor 18 Uhr. Für das Rennen scheint alles perfekt vorbereitet. Den Rucksack tausend Mal gecheckt. Mit Dennis nochmal die gesamte Strecke durchgegangen. Wann trifft man sich wo. Welche Zeiten sind realistisch. Der ganze Ort steht Kopf. Das Lied Conquest of Paradise stimmt die Athleten auf den Start ein. Der Startschuss ertönt und die über 2.000 Athleten werden noch kilometerweit von grölenden Menschenmengen bis hin zum ersten Berg über die Straße getragen. „So muss sich Tour de France anfühlen“, beschreibt Sybille danach ihre Gefühle in diesem Moment.

Sybille fühlt sich gut, sie geht das Rennen konzentriert an. Besonnen und frohen Mutes. Beim ersten Downhill wird ihr jedoch schnell bewusst, dass sie hier vorsichtiger als üblich zu Werke gehen muss. Zu schmierig ist der Boden vom Dauerregen der vergangenen Tage. „Kein Problem“, denkt sie sich. „ich habe ja alle Zeit der Welt und 10.000 Höhenmeter lang die Chance, mich einzugrooven.“ Pünktlich zur Nacht klart es dann auf und der Himmel offenbart seine ganze Pracht. Im Schatten unserer Galaxie werden die langen Anstiege auf 2.500 Meter locker bewältigt. Müdigkeit nicht vorhanden.

Wie schnell sich die Gefühlslage ändern kann zeigt sich dann nach ungefähr 85 Kilometern. „Normalerweise habe ich bei Kilometer 85 keinerlei Schwäche, im Gegenteil: da geht’s bei mir oft erst richtig los.“ Sybille merkt aber, dass sie jetzt schon körperlich komplett K.O. ist. Muskulär schwach, keine richtige Energie vorhanden. Ihr Rettungsanker – der Kopf ist immer noch voll da und fokussiert. Ein DNF („did not finish“ also Rennaufgabe) ist nicht ansatzweise ein Thema. „Es war nicht weiter besorgniserregend. Außerdem bekam ich über die Whatsapp Gruppe die Info von Silvio, einem erfahrenen Ultraläufer, der diesen Wettkampf schon gefinisht hatte, dass die kommenden 45 Kilometer besser laufbar seien und ich gut vorankommen müsste.“ Ein Hoffnungsschimmer für Sybille. Der sich jedoch derb zerschlägt. „Ich realisierte, dass diese fehlende Energie in den Beinen nicht weichen wollte. Da half kein Kohlehydratgel, kein Essen, kein Trinken. Gar nichts. Ich war einfach stehend K.O. und habe es „im Kopf“ noch nicht akzeptieren wollen“.

Die Psyche ist ein enormer Faktor im Leistungssport. Profis arbeiten seit Jahren erfolgreich mit Mentaltrainern und schwören auf deren Betreuung. Wo aus einem Körper nichts mehr herauszuholen ist, müssen andere Stellschrauben gefunden und gedreht werden. Das Innere, das im Volksmund oft als Schweinehund bezeichnet wird und bei Leistungssportlern natürlich genauso vorhanden ist wie bei allen anderen, wird trainiert. Der eigene Wille, das Bewusstsein über die eigene Stärke, das Hervorrufen von positiven Gedanken in harten Phasen des Wettkampfes. Diese Dinge gilt es zu festigen. Sybille hat keinen Mentaltrainer, aber die eben beschriebenen Bereiche in ihren Gedanken sind äußerst stark und widerstandsfähig. Diese Frau umfasst eine positive Aura, die jeden in ihrer Nähe direkt in ihren Bann zieht. Eine positive Grundeinstellung und Ausstrahlung, die ihr auch in den schwierigen Phasen die nötige Gelassenheit geben, um negative Gefühle nicht aufkommen zu lassen. Unterstützung erfährt sie zudem von Dennis und ihrer Trainerin.

Zurück zum Rennen. Es wird immer zäher. Der heftige Anstieg auf den Col de Ferret (der fünfte von 9 Gipfeln) bei eisigem Wind von vorne und Regen ist zermürbend und ihr dämmert, dass es doch etwas ernster um ihre Kräfte bestellt ist. „Der Abstieg nach La Fouly nahm mir dann meine mentale Fokussierung. Ich konnte selbst runter nicht mehr laufen. Ich war einfach platt und meine Beine schmerzten wie sie es sonst nach 90 km nicht tun. Da war erstmals auch im Kopf der erste Einbruch. Ich war verzweifelt, war völlig erschöpft.“ In so einer Situation dünnt selbst das dickste Fell irgendwann aus. Emotionen übermannen einen. Contenance? Keine Chance. „Das geht alles gleich voll rein ins tiefste Innere“.

Sybille plagt sich mit dem ersten Gedanken ans Aufhören. Er will und will nicht weichen. „Und das bei mir, bei meiner mentalen Stärke, ausgerechnet beim Mega-Event UTMB. Ich konnte es einfach nicht fassen.“ Sie schleppt sich im Schneckentempo die nächsten Kilometer hinab in Richtung der Verpflegungsstelle in La Fouly. Zwischen ihr und Champex Lac, was sie mit Dennis als nächsten Treffpunkt ausgemacht hatte, liegen noch gute 20 km, also mindestens 4 Stunden. In kryptischen Nachrichten hatte sie Dennis hin und wieder eine Idee ihres Zustandes mitgeteilt. „Und dann steht er plötzlich schon in La Fouly vor mir!“ Wie ein Fundament steht er da und Sybille übermannen wieder ihre Gefühle. Die Tränen fließen. Die Motivation und die aufmunternden Worte ihres Lebensgefährten, der sie einst in die Ultralaufszene eingeführt hatte, helfen enorm. Überwunden ist die Krise allerdings nicht. „Die nächste Passage nach Champex Lac war die schwärzeste des ganzen Laufs. Ich war noch nie in einem Ultra so verzweifelt und am Boden“. Zum mentalen Tiefpunkt kommen körperliche Probleme. Die schweren Beine und die schmerzenden Schultern luden ein zum allgemeinen Stelldichein der körperlichen Wehwehchen. Nichts Schlimmes freilich. Aber wenn der Kopf schon streikt, merkt man jeden Stich doppelt und dreifach.

Negative Gedanken brechen durch, übernehmen die Kontrolle, stundenlang. Angst vor dem Rest der Strecke und den etlichen Höhenmetern entsteht, Angst vor dem nahenden Abbruch, Angst vor den stärker werdenden Schmerzen und der völligen Kraftlosigkeit, Angst ihren Lebenstraum nicht vollenden zu können. Nach einer gefühlten Ewigkeit taumelt sie völlig entkräftet in Champex Lac ein (124 km). „Ich fiel quasi in mir zusammen“. Was Dennis in den folgenden 45 Minuten leistet ist enorm. „Gut zureden trifft es nicht im Geringsten. Mich füttern, den „Tank“ wieder auffüllen und mich warm einpacken waren nur ein Teilaspekt. Seine mentalen Bemühungen ein viel größerer. Mir klarmachen wie viel unendlich Zeit ich habe, das Ziel zu erreichen. Wie gut ich weiterhin im Rennen bin, ganz nüchtern betrachtet. Was für eine tolle Platzierung ich im Gesamtrang habe. Und nicht zuletzt der Hinweis, dass neben mir viele, viele andere Läufer mindestens genauso leiden und das genau DAS zu einem Ultra einfach dazugehört! Dass 100 Meilen eben genau diese Momente bringen, ich sie bis dato aber einfach noch nicht kennengelernt hatte. Dass ich keinerlei orthopädischen und andere gesundheitlichen Probleme habe, die ein Aufhören vielleicht erzwungen hätten.“

Der Versuch eines 15-minütigen Powernaps misslingt. Zu aufgewühlt ist Sybille. Also beschließen sie zusammen, die Pause zu beenden, Sybille dick einzupacken und sie einfach in die kommende zweite Nacht hinauszuschicken. Jemand Branchenfremdes hätte ihr in diesem Moment sicherlich zum Aufhören geraten, was sicherlich auch durchaus als vernünftige Reaktion auf den körperlichen und geistigen Zustand gewertet hätte werden können. Doch es ist nun mal ein Once-In-A-Lifetime Erlebnis und wir reden hier nun mal über eine erfahrene Ultraläuferin. Argumente, die gegen das Aufhören sprechen, gibt es in solch einem Moment für solch eine Person dann mindestens ebenso viele.

Sybille hat nicht einmal zwei Minuten das Zelt verlassen, da ist mit einem Mal ihre gesamte Energie zurück. „Ich konnte problemlos laufen. Mein Geist war wieder da. Ich „raste“ gefühlt die fast 1.000 Höhenmeter hoch und sammelte Läufer für Läufer ein. Huch? Ist der Gipfel schon erreicht? Très bien.“ Wissenschaftlich ist dieser Wandel vom tiefsten Tief zum höchsten der Gefühle wahrscheinlich zu erklären. Auf Recherchen hierzu wird jedoch verzichtet. Eine sachliche Erläuterung, die Sybilles Sinneswandel mit der Ausschüttung verschiedener Hormone im Zusammenspiel mit dem menschlichen Überlebensinstinkt und ausgeschalteten zentralen Hirnfunktionen erklärt (oder versucht zu erklären), nimmt der ganzen Sache doch irgendwie die Romantik und die Faszination. Und diese ist es doch, die diese Geschichten von Freud und Leid so erzählenswert machen. So ist dann allerdings auch die logische Konsequenz, dass die restlichen 30 km und 2000 Höhenmeter, also die letzten 6,5 Stunden in denen es bei Sybille einfach gut läuft, relativ schnell erzählt sind.

„Mein Kopf war wieder voll da, aber jeder der drei letzten Buckel war schwieriger, steiler, technischer… Somit musste ich wirklich noch alles Verbleibende in mir mobilisieren.“ Ein weiteres Tief holt sie dann beim letzten Aufstieg auf La Flégère ein. Erschöpfung, totale Müdigkeit und Krämpfe in den Beinen. An Laufen ist nicht mehr zu denken – nur noch Gehen ist möglich. Sybille trifft auf dem Weg nach oben auf einen Italiener und eine Französin. Beiden geht es gleich schlecht. Interessante Gespräche erfordern ihre Aufmerksamkeit, die Schmerzen werden verdrängt. „Die letzten 500 Meter ins Ziel konnte ich dann nochmal Laufen. Ich war allerdings schon zu erschöpft um alles Greifen zu können, dass ich es tatsächlich geschafft habe“. Im Ziel steht Dennis. Eine innige Umarmung. Weitere Tränen fließen. Sie fließen wahrscheinlich aus Stolz über das Geschaffte, aus Erschöpfung, aus Freude und aus Erleichterung, dass es vorbei ist.

Mit was lassen sich solche Momente vergleichen? Wie können Menschen, die nicht jede Woche hunderte von Kilometern zu Fuß zurücklegen, einen Hauch von der Faszination aufnehmen? Wie kann man nur ansatzweise erklären, dass eine solche Tortur für einen Ultraläufer tiefste innere Zufriedenheit bedeutet? Ich glaube hier muss jeder für sich selbst Vergleiche finden. Vielleicht ein Lebenstraum, den man sich erfüllen will oder bereits erfüllt hat. Man denke daran, welche Höhen und Tiefen man bis zu diesem Traum überwinden musste und welch fantastisches Gefühlschaos im Moment des Erreichens in einem herrschte. Sybilles Traum dauerte nicht „nur“ 36 Stunden. Dieser Traum entwickelte sich vor Jahren, gipfelte im wahrsten Sinne des Wortes in dem Wochenende am Mont Blanc und lebt noch lange weiter, als ihr eigenes ganz fantastisches Gefühlschaos.

Eine Reportage von Manuel Kirschey

Bilder: Dennis Grändorf, Manuel Kirschey, Beitragsbild (C) UTMB

Video: UTMB